Interview mit der Autorin Bettina Kerwien

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Auch heute habe ich wieder eine Krimiautorin zu Gast. Diesmal kommt mein Interview-Gast aus Berlin.

Guten Tag Bettina Kerwien.

Grüß Dich, Ann-Bettina Schmitz. Schöner Name übrigens 🙂

Dein neuester Krimi „Mitternachtsnotar“ soll Ende nächsten Monats erscheinen. Kannst du uns schon etwas darüber verraten?

Mitternachtsnotar

Der »Mitternachtsnotar« thematisiert eine furchtbare Entwicklung überall in Berlin, nämlich die sogenannte Gentrifizierung. Als das an der Uni Thema war, dachte ich immer, das ist ein US-amerikanisches Problem. Schließlich ist Kreuzberg ja nicht Manhattan. Aber die Zeiten ändern sich. Aus Kreuzberg wird Kreuzkölln, und aus »Eigentum verpflichtet« wird Gewinnmaximierung. Aus Gründen der Gier und, weil der Immobilienmarkt es eben derzeit hergibt, arbeiten Eigentümer von Wohn- und Gewerbeimmobilien in Berlin in den letzten Jahren erfolgreich an ihrer Rendite. Das klingt immer so abstrakt, aber in meinem Bekanntenkreis ist es passiert: In der ganzen Nachbarschaft wurden Modernisierungsankündigungen zugestellt, mit Wärmedämmung, neuen Fenstern, neuer Heizung, neuen Bädern (frei stehende Wanne), Wintergarten und allem Schnickschnack, und man sollte statt EUR 500 plötzlich EUR 2.500 Miete bezahlen. Dann ist da ein Gefühl von Hilflosigkeit, Entwurzelung, Angst und Existenzbedrohung. 500% Mieterhöhung, da hat der eine Panik, der andere hegt vielleicht sogar Mordgedanken … Jedenfalls steht viel auf dem Spiel.
Aber der »Mitternachtsnotar« ist auch eine Liebesgeschichte. Privatdetektiv Martin Sanders hat Angst vor dem, was er für die freche Escortlady Liberty Vale empfindet. Natürlich sind sie Freunde. Sanders redet sich ein, ihm reiche das, aber Liberty findet, dass Männer und Frauen keinesfalls »nur Freunde« sein sollten – die Evolution hat das doch gar nicht so vorgesehen!

Du bewirbst „Mitternachtsnotar“ ebenso wie seinen Vorgänger „Märzwinter“ als Berlin-Krimi. Berlin scheint als Handlungsort für Krimis sehr beliebt zu sein. Hast du eine Erklärung dafür? Was ist an diesen beiden Krimis so typisch berlinerisch?

maerzwinter

Jetzt könnte ich natürlich sagen: Berlin ist halt voller Verbrecher! Würde ich so falsch liegen? Wer weiß. Übrigens hat mein Agent mal eine Absage von einem Verlag für einen meiner Texte bekommen mit der Begründung, Berlin hätte sich als Krimischauplatz nicht bewährt. Aber das war wohl tatsächlich eher eine Einzelmeinung.
Ich schätze, dass so viele Krimis in Berlin spielen, weil es noch aus Mauerzeiten eine »Frontstadt« ist, ein Schwellenort, ein Tor in eine andere Welt, da kann man sich viel vorstellen. Die neue Architektur ist einerseits messerscharf, aber auf dem RAW-Gelände zum Beispiel sieht es aus, als wäre der Krieg erst seit gestern zu Ende gegangen. Man spricht vom gläsernen und vom steinernen Berlin. Die Leute mögen Döner und den billigen Jägermeister aus den Spätis sowie wüste Techno-Clubs mit unwägbarem Türpersonal. Wer noch nie in New York war, könnte glatt denken, Berlin sei voller skurriler Irrer, die mit ihrem Pony U-Bahn fahren. Nicht alles habe ich mir ausgedacht.
Zu den Möglichkeiten des Schauplatzes Berlin gehört auch, dass die Stadt unfertig und unübersichtlich ist, inszenierte Individualität trifft auf unfreiwillige Anonymität. Man kann gut verschwinden, untertauchen. Man kann alles haben oder nichts. Realitäten prallen aufeinander. Berlin ist die Stadt der Kontraste, es gibt das ganze Spektrum, die ganz Armen und die ganz Reichen. Es gibt auch die unterbesetzte und überforderte Polizei, die im »Mitternachtsnotar« geschildert wird. Das sind alles Standortvorteile für Verbrecher.

Mein Buch »Märzwinter« spielt in Berlin-Mitte, in Moabit. Im Moabit nennen sie es einen Moabit-Krimi. Weil die Hauptfiguren dort wohnen, und die Leute bei den Lesungen lachen, wenn sie die Straßen, Geschäfte und Gebäude wiedererkennen. Eine Pizzeria, die unter anderem Namen im »Märzwinter« vorkommt, hat sich trotzdem erkannt und mir im letzten Jahr eine Lesung angeboten. Das war eine der besten Lesungen, die ich je hatte. Wirklich am Originalschauplatz. Der Wirt hat immer wieder gesagt: »Sie müssen schon mal hier gewesen sein!« – dabei hatte ich alles im Internet recherchiert.

Na ja, moderne Zeiten. Zum Thema Berlin bin jetzt glatt ins Plaudern geraten. Hast Du’s gemerkt? Ick liebe meine Stadt.

In deinem ersten Krimi „Machtfrage“ geht es auch um politische Zusammenhänge in Bezug auf die RAF-Terroristen. Was interessierte dich an der RAF so, dass du einen Krimi rund um dieses Thema geschrieben hast?

Machtfrage

Eigentlich wollte ich nur das Geld. Das Geld der RAF-Terroristen aus ihren Banküberfällen. Es gab oder gibt ja diese sogenannten »Erddepots«, in denen die RAF-Aktivisten Geld, Waffen, Munition, Briefpapier usw. versteckt hatten bzw. haben. Nur einige wenige dieser Depots wurden je von der Polizei gefunden. Die Restlichen sind da draußen noch irgendwo, gut gefüllte Erdlöcher im Wald oder sonst wo, und warten auf ihre Entdeckung.
In der »Machtfrage« geht es mir vor allem um eine Stiftung, die sich mit korrupten Lokalpolitikern anlegt. Um die Stiftung mit genügend Kapital auszustatten, wollte ich nicht den üblichen Lottogewinn oder die abgenudelte Erbschaft. Ich lasse einen der Stiftungsgründer zufällig ein Erddepot finden. Mit dem Geld spekuliert er dann an der Börse, als er genug zusammenhat, gründet er die Stiftung.
Das andere spannende Thema in dem Text ist: Was macht der Terrorist, wenn er feststellt, dass die Revolution nicht stattfinden wird? Arrangiert er sich mit der nie gewollten Lebenswirklichkeit und wird sentimental und bürgerlich-privat? Oder geht er unter mit einem letzten großen Knall? Im Buch entscheidet sich Ex-RAF-Mitglied Michael Glass für ein Ende mit Schrecken und will den Berliner Reichstag in die Luft jagen.

Jeden deiner Krimis hast du bei einem anderen Verlag herausgebracht. Warum das denn?

Das war leider keine freiwillige Entscheidung. Der Gmeiner-Verlag kaufte die Rechte an der »Machtfrage«, wollte dann aber erst den Erfolg des ersten Buches abwarten, bevor er das zweite Manuskript annimmt.
Ich schrieb aber natürlich weiter, das nächste Manuskript lag bald fertig da, und der »Märzwinter« verkaufte sich unerwartet schnell an den Sutton-Verlag. Wir mussten dann den Erscheinungstermin um ein halbes Jahr nach hinten schieben, damit der »Märzwinter« der »Machtfrage« nicht völlig das Wasser abgräbt. Leider wurde der Sutton-Verlag 2015 verkauft und stellte nach dem Frühjahrsprogramm 2016 die Regionalkrimis ein.
Gott sei Dank gelang es meinem Agenten aber auch für das nächste Manuskript wieder, einen neuen Verlag zu finden. Diesmal ist es der Berliner Jaron-Verlag geworden, worüber ich mich sehr gefreut habe. Ich denke, ein Berliner Verlag kann einen Berlin-Krimi besser einschätzen und befördern. Außerdem ist der Jaron-Verlag gut vernetzt und sehr engagiert in Berlin.

Auf deiner Homepage habe ich gelesen, dass Lesen für dich sehr wichtig ist. Liest du nur Krimis oder auch etwas anderes?

Eigentlich lese ich hauptsächlich Sachbücher zur Recherche, das heißt zum Beispiel im Moment gerade »Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis« (Hrsg. Clages/Ackermann). Auch das Thema Realitätskonstruktion durch Sprache treibt mich aus aktuellem Anlass gerade um, ein spannendes Buch ist das »Wörterbuch des besorgten Bürgers« (Feustel u.a.). Was hat es zum Beispiel mit dem Konstrukt »Toleranzfaschismus« auf sich? Die Autoren entlarven die Ideologien hinter den Wörtern. – Also, ich bin ein Sachbuchfan. Das habe ich von meinem Papa.
Wenn ich zum Krimi greife, dann sind es oft klassische amerikanische Pulp-Detektiv-Geschichten. Mein Liebling ist der Roman Noir, ich liebe dieses Melancholische zum Beispiel bei Raymond Chandler. Der Noir spielt mit den Hoffnungen der Menschen. Er gaukelt einem vor, am Ende könnte alles gut werden und lässt den Leser dann zerstört zurück. Die Hauptfigur natürlich auch. Das hat etwas sehr Urbanes, das hat viel mit Berlin zutun. Die Unmöglichkeit von Glück. Das Gefühl, dass einem die zweite – wichtigere – Hälfte abhanden gekommen ist, ist ein sehr berlinisches Gefühl.

Mit Carola Wolf zusammen hast du auch etwas ganz anderes als Krimis geschrieben: „Ladies´ Night“ ist eine Sammlung von sexy Storys. War das nicht schwierig, plötzlich mit jemandem zusammen ein Buch zu schreiben?

ladies-night

Darin habe ich viel Erfahrung. Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren habe ich mit etwa acht (das schwankte) altersgemischten Menschen zusammen einen Thriller über einen Anschlag bei der Fußball-WM 2006 geschrieben. Dieser Text soll demnächst auch erscheinen, er heißt »Tödliches Sommermärchen«. Technisch gesprochen haben wir den Text szenenweise unter uns aufgeteilt und die »Schreibe« im Nachhinein aneinander angeglichen. Besonders das Plotten war immer sehr hitzig, aber auch wahnsinnig kreativ. Hat viel Spaß gemacht. Ich kann das Schreiben zu Mehreren nur empfehlen, man lernt unheimlich viel – übers Schreiben, über Menschen, über Gruppendynamik. Über Kompromisse.
Das Buch »Ladies‘ Night« ist eine, wie ich finde sehr gelungene Konstruktion, die meine Freundin und Kollegin Carola Wolff erdacht hat (www.carolawolff.de). Es gibt eine Rahmenhandlung, nämlich die »Ladies‘ Night« in der Bar »Zur grünen Fee«. Dort steht der Teufel hinterm Tresen, und der lässt eine anwesende Schriftstellerin reihum in die Köpfe der anwesenden Gäste schauen und deren sexuelle Fantasien erleben. Die Geschichten stehen also alle mehr oder weniger für sich. Für mich war das eine super Möglichkeit, meine Hauptfiguren für den »Märzwinter« besser kennenzulernen und auszuprobieren, wie sie reagieren. Und es hat viel Spaß gemacht, die ersten Publikumsreaktionen auf die Figuren zu bekommen.

Du scheinst ja die Abwechslung zu lieben: Nach einem Studium, das eigentlich nicht viel mit Werbung zu tun hatte, hast du eine eigene Werbeagentur aufgemacht und dann später ein Stahlbauunternehmen gekauft. Und jetzt schreibst du Krimis. Was kommt als Nächstes? Ein eigener Verlag? Science-Fiction-Romane? Oder wirst du Politikerin?

Politikerin zu sein, würde mich in den Wahnsinn treiben. Die ganzen Egomanen, zu denen Du sehr, sehr nett sein musst! Auweia. Könnte ich nicht. Aber ich hätte Lust, Cockerspaniel zu züchten.
Jetzt mal im Ernst: ich liebe Projekte. Ich möchte immer ein Projekt haben, das ich möglichst von A – Z selbst gestalten kann. Wir machen viel Stahlbau im Bereich Theatertechnik. Ein guter Kontakt nach Kuwait hat sich in der »Machtfrage« niedergeschlagen. Eine Anfrage des Berliner Fernsehturms gab mir die Idee für den Showdown im »Märzwinter«. Das befruchtet sich also.
Schreiben ist für mich gleichzeitig ein Projekt und ein Meta-Projekt. Die Autorin muss das Buch schreiben (also das Projekt umsetzen), gleichzeitig ist sie »Gott« in ihrem selbst erschaffenen Projekt. Die Sonne scheint, wenn sie es will. Die Joghurtkultur ist rechts- oder linksdrehend, je nachdem, was sie will. Alles hört auf mein Kommando. Das ist cool. Das ist ganz anders als im richtigen Leben. Das ist wie Urlaub, quasi. Also, vielleicht mache ich das mit dem Schreiben noch eine ganze Weile. Und dann erst die Cockerspaniel.

Bist du so ein gut organisierter Mensch, dass du neben deiner Tätigkeit für das Stahlbauunternehmen noch Bücher schreiben, Lesungen halten und dich z. B. in der Volkshochschule Reinickendorf engagieren kannst?

Nein. Ich bin überhaupt nicht gut organisiert. Das gleiche ich mit Fleiß aus. Und ich schlafe weniger als andere. Ich habe aber auch viel Hilfe von Familie und Freunden.
Für die Volkshochschule muss ich eine Lanze brechen. Die tollen »Writers‘ Coaching«-Kurse von Claudia Johanna Bauer an der Volkshochschule Reinickendorf besuche ich seit über 10 Jahren. Ich verdanke Claudia alle handwerklichen Kenntnisse und Fähigkeiten bezüglich des Schreibens. Das miefige Image der verstaubten Volkshochschule trifft in Berlin kein Stück zu. Die VHS Reinickendorf fördert uns angehende Autoren mit Kursen, Lesungsmöglichkeiten und Lesetrainings. Das Beste ist aber, dass man sich hier Woche für Woche mit Gleichgesinnten austauschen kann. Hier findet man Probeleser und Freunde, die sich gegenseitig unterstützen.
Das lässt sich übrigens auch über die Mörderischen Schwestern sagen, wo ich auch Mitglied bin. Ich wünschte, der Tag hätte nicht nur 24 Stunden, dann könnte ich mich da mehr einbringen.

Dein neues Projekt soll etwas mit dem Mond zu tun haben?

Ja, im letzten Jahr gab es in Berlin einen Supermond, der auch noch ein sogenannter Blutmond war – der Mond war sehr groß, der größte Mond seit 70 Jahren, und leuchtend rot. Da fiel mir auf, dass Berlin und der Mond oft miteinander zu tun haben – Volker Kutscher schreibt über den »Lunapark«, die ur-berlinischste Operette von allen heißt »Frau Luna«, usw. Das ist eine gute Grundlage für ein Symbol, das einem Text Tiefe gibt.
Der Mond macht die Leute verrückt. In meinem nächsten Krimi (Arbeitstitel »Mond über Mitte«) ersticht ein Täter im Hühnerkostüm eine Frau namens Dr. Valeria Lunar in einer Autowaschanlage. Klingt lustig. Ist es aber nicht.

Möchtest du den Leser*innen sonst noch etwas erzählen?

Hier kommt noch eine kleine Text-Kostprobe, nämlich der Anfang von »Mond über Mitte«, damit Ihr eine Idee davon bekommt, was und wie ich schreibe:

Warschauer Ecke Revaler Straße wird vor allem gesoffen. Eine Wodkaflasche fliegt auf die Straße, ein Taxi fährt drüber, der Reifen platzt. Das Geräusch geht im allgemeinen Partyvolkgeschwirre unter. Der Wagen fährt einfach auf drei Rädern weiter.
Es ist die dritte tropische Vollmondnacht in Folge, die Martin Sanders mit Observation verbringt. Das dünne Baumwollhemd klebt ihm an Brust und Rücken.
Im Radio sagen sie, dass ein Atlantiktief auf dem Weg nach Berlin ist, im Gepäck ein paar Tonnen roten Saharastaub. Es wird regnen, heißt es. Der Regen wird rot sein, so rot wie der Krimsekt, den die schöne Radiologin Dr. Valeria Lunar dort drüben am Imbiss auf der Ecke aus der Flasche trinkt.
Als Valeria den schönen Raik an sich presst und auf das kantige Kinn küsst, drückt Sanders den Auslöser seiner Kamera. Raik ist zu jung für Valeria und außerdem ein stadtbekannter Scheidungsgrund.
Moral? Muss man sich leisten können. Natürlich übernimmt Sanders jede Art von Scheidungsfällen. Für 50 Euro die Stunde plus Spesen würde er sogar einen Junggesellinnenabschied organisieren, wenn es sein müsste.

Vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg bei deinen Unternehmungen.

Vielen Dank für die tolle Gelegenheit, mich über mein Lieblingsthema »Schreiben« auszulassen!