Autoren-Interview mit Robert Scheer

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Heute habe ich wieder einen Autor zum Interview zu Gast, der mir durch eines seiner Bücher aufgefallen ist. Dieses Werk, »Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück«, ist ein ganz besonderes Buch.

Guten Tag Robert Scheer.

Schönen guten Tag

Deine neueste Veröffentlichung »Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück«, ist ein sehr persönliches Buch. Es entstand aus den Erinnerungen deiner Großmutter. Wessen Idee war das – deine oder die deiner Großmutter?

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Es war meine Idee. Und weil meine Großmutter, Pici, mich sehr sehr liebte, konnte sie zu mir nur in Ausnahmefällen Nein sagen. Ich habe zu ihr gesagt, sie solle ihre Erinnerungen bitteschön aufschreiben.
Das Buch ist in Dialog-Form geschrieben – das war meine Idee. Pici hat ihre Erinnerungen auf Ungarisch aufgeschrieben, ihre und meine Muttersprache. Ich habe diese auf Deutsch übersetzt. Zuerst habe ich ein Poem, also ein längeres Gedicht daraus gemacht, was Pici sehr gut gefiel. Danach habe ich mich doch entschieden, auch ein Prosa-Buch zu schreiben. Mein Beitrag zu Picis Buch ist die Form, die Dialogform, welche ich als literarische Leistung zu dieser Biografie zähle. Im Grunde habe ich Picis Erinnerungen übersetzt, sie leichter, den Lesefluss leichter für die LeserInnen gemacht. Pici hat das Buch schließlich für mich und meinen Bruder geschrieben. Sie dachte, es wird niemanden interessieren. Ich war anderer Meinung …

Haben die Erlebnisse deiner Großmutter dich als Kind und Jugendlicher beeinflusst oder wurde in eurer Familie früher nicht darüber gesprochen?

Ja, Pici fing früh an, mir und meinem Bruder ihre Geschichte zu erzählen. Mein Vater hat all dies nicht mitbekommen. Irgendwann habe ich gelesen und herausgefunden, dass viele Überlebende ihre Geschichten nicht den Kindern, sondern erst den Enkelkindern mitteilen. Bei uns war es jedenfalls so. Seit ich denken kann, habe ich das Wort Judentum und das Wort Auschwitz gehört. Ich wusste nicht, was das alles heißen sollte, aber ich wusste, dass ich etwas damit zu tun hatte, wenn auch nicht direkt.

War es schwierig einen Verlag für dieses Buch zu finden?

Ich habe einigen Verlagen das Buch angeboten, aber sie lehnten es ab. Einige wussten, dass es ein wichtiges Buch ist, aber sie wussten auch, dass einige Zeit dabei noch investiert werden musste. Ich bin ja kein Übersetzter und schreibe eigentlich keine Sachbücher. Aber als Pici Anfang August 2015 gestorben ist, musste ich handeln. Natürlich dauerte es einige Zeit, bis ich diesen Schritt wagte. Im Internet bin ich zufällig auf einem neuen Verlag aus Hamburg namens Marta Press gestoßen, der ausdrücklich nach so einem Buch suchte. Am 24. Dezember habe ich eine Leseprobe geschickt. Am selben Tag noch das ganze Manuskript. Am 25. kam die Zusage. Die Verlegerin Jana Reich wollte das Buch im Sommer verlegen, aber als ich meinte, dass Pici am 11. März ihren Geburtstag hatte, haben wir uns entschieden, das Buch an diesem Datum zu veröffentlichen. Es ist eine schöne Geschichte, finde ich. Vielleicht war Pici in diesem Prozess irgendwie involviert, wenn auch von der „anderen Richtung“. Mit der „anderen Richtung“ meine ich nichts Metaphysisches, sondern nur eine Andeutung daran, dass es in der Welt keine Teilung gibt, keinen Anfang und kein Ende – alles ist eins. Dies kann man am Besten an den alltäglichen Dingen beobachten: das Herz schlägt, die Haare wachsen.
Pici ist vielleicht nicht mehr zwischen den Lebendigen, aber sie ist in meinem Herzen. Solange ich lebe, lebt sie auch in mir weiter. Mehr lässt sich mit Worten nicht wirklich sagen. Worte sind nicht so wichtig, wie viele meinen. Und paradoxerweise sind es meistens Schriftsteller, die diese Sache verstehen. Man schreibt ja, weil man weißt, dass dies alles keinen Sinn ergibt. Diejenigen, die das nicht verstehen, sind keine wirklichen Schriftsteller. Kurz gesagt: Nur diejenige, die an das Wort nicht glauben, haben das Wort.

Seit einigen Jahren lebst du in Deutschland. Was hat dich ausgerechnet in das Land gezogen, dass der Familie deiner Großmutter so viel angetan hat?

Anfangs war ich von der idealistischen Philosophie angezogen. Das war so, weil ich damals idealistisch war. „Idealistisch“ in diesem Fall ist mit „dumm“ und „naiv“ gleichzusetzen. Auch Hölderlin übte eine ungesunde Wirkung auf mich aus. 2002 kam ich nach Tübingen für einen Monat, um die deutsche Sprache zu verbessern. 2003 war ich bereits Doktorand an der Tübinger Uni. Ja, ich gebe zu, ich war besessen. Für diese Besessenheit bezahlte ich einen hohen Preis – dies steht aber auf einem anderen Blatt.
Interessanterweise – als ich schon eine Weile in Tübingen war – entdeckte ich, dass meine Großmutter mütterlicherseits halb Donauschwäbin war. Meine Mutter war überrascht, dass ich dies nicht wusste. Ich dachte immer, meine Oma mütterlicherseits wäre Ungarin, aber nein, ihre Mutter, also meine Urgroßmutter mütterlicherseits war Donauschwäbin …

Du hast auch ein heiteres Buch veröffentlich: »Der Duft des Sussita«. Was ist ein »Sussita«? Was erwartet den Leser in diesem Buch?

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Der Sussita ist der israelische Trabi, der Trabi des Nahen Ostens. Die Kamele lieben dieses Auto über alles, denn dieses Auto wurde aus einer Art Karton gebaut. Und es ist keine Legende, sondern die Wahrheit: Die Kamele fressen gerne dieses Auto auf!

In deiner frühe Kindheit hast du in Rumänien gelebt, deine Muttersprache ist Ungarisch, deine Jugend hast du in Israel verbracht, jetzt lebst du in Deutschland und schreibst Bücher auf Deutsch. Welches Land betrachtest du als deine Heimat? Oder gibt es so etwas für dich nicht?

Haha, gute Frage! Einige Schriftsteller behaupten, ihre Heimat wäre die Sprache. Ich finde schön, dass jemand so etwas sagen darf, z. B. einer meiner Lieblingsschriftsteller Sándor Márai, der die ungarische Sprache als seine Heimat bezeichnete, auch wenn er im Exil lebte. Ich betrachte kein Land und keine Sprache als Heimat. Ich wohne jetzt in Tübingen und schreibe auf Deutsch. Ich muss ehrlich sein und sagen, dass ich dies alles nicht verstehe … Ich habe keine Heimat, nicht einmal eine Sprache als Heimat. Ich bin überall zu Hause und überall fremd. Ob es gut oder schlecht ist, weiß ich nicht. Ich kenne nichts anderes. Von Anfang an war es bei mir so. Ich bin in Carei geboren, wo die Menschen fast ausschließlich Ungarisch sprechen bzw. damals sprachen. Mit sieben Jahren ist meine Familie nach Baia Mare umgezogen, wo man Rumänisch sprach. Später in Israel war wieder eine andere Sprache und eine andere Mentalität. Ich war eine Weile auch in England und Australien. Jetzt bin ich in Deutschland. Heimat ist vielleicht so etwas wie »Hier und jetzt«. Dies zu erreichen ist mein Ziel. Ich bin auf der Suche nach der Heimat, die ich nie finden werde. Aber ich verliere keine Zeit und suche nicht einmal. Die Suche bringt ja nichts, denn alles ist schon da. Man muss nur die Augen öffnen …

Schreibst du deine Bücher direkt in Deutsch oder erst in Ungarisch und übersetzt sie dann?

Ich schreibe auf Deutsch, denn ich befinde mich in Deutschland. Übersetzen ist sehr schwierig und, weil ich von Natur aus sehr faul bin, mag ich das nicht. Nur mit „Pici“ machte ich diese Ausnahme. Diese Tätigkeit fiel mir sehr schwer. Und irgendwann werde ich es nochmal tun müssen, denn Picis Geschichte geht weiter. Pici hat auch über ihr Leben nach 1945 geschrieben. Dieses Buch wird auch etwas besonders sein, obgleich es für mich schwere Maloche bedeuten wird.

Ich habe gelesen, dass du nach zwei Monaten wegen Pazifismus aus der israelischen Armee entlassen worden bist. Finde ich ja ganz sympathisch. Aber wie hat man sich das vorzustellen? Hast du denen erklärt: «Ich laufe hier zwar in Uniform rum, schieße aber auf niemanden«?

Eigentlich waren es zweieinhalb Monate, haha … Ich war nicht so weit mit meiner Ausbildung als Soldat, um zu schießen. Ich weilte die ganze Zeit in dem ersten Aufnahmelager und verweigerte mich dorthin zu gehen, wo sie mich haben wollten. Die Armee wollte mich als Kämpfer sehen. Das wollte ich auf gar keinen Fall. Als sie sahen, dass es mit mir nicht zu machen war, wollten sie einen Lkw-Fahrer aus mir machen. Da habe ich mich entschieden, dass es so nicht weiter geht, und war entschlossen, dieser scheußlichen Institution für immer den Rücken zu kehren. Damals war es keine einfache Sache, im Gegenteil, es war äußerst schwer. Aber ich wollte raus und sie konnten mich nicht aufhalten.

Du hast auch als Rockmusiker, Produzent und Dolmetscher gearbeitet. Wie bist du zur Schriftstellerei gekommen?

Wie bereits gesagt, habe ich in Tübingen Philosophie studiert. Es ging alles ziemlich gut, aber dann geschah etwas und es ging nicht mehr weiter. Was kann schon jemand mit einem halbwegs abgeschlossenen Philosophiestudium machen? Die Antwort ist in diesem Fall nicht philosophisch, aber wohl klar: Nichts. In der Akademie zu bleiben, war nach all dem, was mir passiert war, auch nicht zu denken. Und im Nachhinein kommt mir dies als ein großes Geschenk vor. Um nochmal zu deiner Frage zu kommen: Ich wurde Schriftsteller, weil es für mich keine andere Möglichkeit gab. Aber ich betrachte mich nicht wirklich als Schriftsteller – ich bin ein Künstler; ich weiß nicht genau, was das heißt, aber es klingt irgendwie besser …

Schreibst du schon an einem neuen Buch?

Ich weiß noch nicht so genau – ich lasse mich einfach überraschen.

Was möchtest du uns sonst noch erzählen?

Ich kann nur über mich erzählen. Die sogenannten Romane sind nicht so fiktiv, wie man denkt. Deswegen sind viele Romane so langweilig. Die Schriftsteller, die diese Romane schreiben, sind langweilig und verbergen ihre langweiligen Persönlichkeiten hinter der Fiktion. Es gibt natürlich Ausnahmen, aber nicht sehr viele. Ich denke, man muss dem Abgrund begegnet sein, um zu schreiben. Unfreiwillig habe ich so eine Erfahrung machen müssen, leider. Nur deswegen fühle ich mich mit dem, was ich tue, im Einklang. Ich habe einen hohen Preis dafür bezahlt – ich schreibe mit Blut (- ich entschuldige mich für diese pathetische Aussage). Heutzutage ist fast jeder ein Schriftsteller. Ich bin so einer gegen meine eigenen Wünsche geworden. Hoffentlich schaffe ich es eines Tages, nichts mehr zu schreiben: Das ist mein Ziel.

Vielen Dank für das Interview, Robert Scheer. Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg und besonders »Pici« viele Leser.

Herzlichen Dank!