Rezension: »Nachtigallentrauer – Hamburg 1934« von Lea Krambeck

nachtigallentrauer

Titel: Nachtigallentrauer – Hamburg 1934
Autorin: Lea Krambeck
Taschenbuch, 358 Seiten

Die Autorin: Lea Krambeck ist geborene Hamburgerin und hat Biologie studiert. Bis 1990 arbeitete sie am Max-Planck-Institut für Limnologie in der Ökosystemforschung. Sie hat sich jahrelang für Flüchtlinge engagiert. Seit 2004 schreibt Lea Krambeck Kurzgeschichten 2006 gewann sie mit »American Chat« einen Preis bei der Lesebühne des Literaturhauses Kiel. Im Jahr 2008 wurde sie in die Autorenwerkstatt des Literaturhauses Kiel aufgenommen. Ihre Anthologie »Reiseleben. Geschichten vom Ankommen« erschien 2015 bei neobooks. »Nachtigallentrauer – Hamburg 1943« ist ihr Debütroman.

Das Buch: Marion singt gerne, spielt Akkordeon und will immer alles ganz genau wissen. Bei ihrer neuen Klassenlehrerin bekommt sie aber kein Bein auf den Boden. Marion versteht nicht, was plötzlich an ihr oder ihrem Vater schlecht sein soll. Und warum soll Einstein kein großer Physiker sein? »Wichtig ist nicht, was wahr ist, sondern, was sie wahr machen«, sagt ihre große Schwester Ida. Da sieht Marion nur noch eine Lösung, aber die führt sie auf dünnes Eis.

Marion ist eine sehr intelligente, musikalische und wissbegierige Gymnasiastin von 15 Jahren. Aus Gründen, die sie nicht wirklich versteht, muss sie die Schule wechseln. An der neuen Schule erlebt sie als Erstes, dass ihre Klassenlehrerin entlassen wird, weil sie Jüdin ist. Die neue Klassenlehrerin ist eine stramme Nationalsozialistin. Sie unterrichtet ausgerechnet Marions Lieblingsfächer Mathematik und Physik. Schnell macht dien Lehrerin klar, dass sie von Marion als Mischling nicht viel hält. Plötzlich soll es auch eine deutsche Physik geben und Einstein ein Scharlatan sein. Marion versteht die Welt nicht mehr. Aber darf sie einer Lehrerin widersprechen? Ihre kritischen Nachfragen werden immer schneller abgeblockt.
Nicht nur Mathematik und Physik sind problematisch. In Biologie wird die nationalsozialistische Rassentheorie durchgenommen. Im Deutschunterricht liest die Lehrerin mit wachsender Begeisterung aus Hitlers »Mein Kampf« vor. Die anderen Schülerinnen nehmen das alles nicht sonderlich ernst. Nur Marion stört sich an den unlogischen, oft sehr krausen Behauptungen. Mit ihren ständigen Nachfragen und Einwänden macht sie sich und anderen das Leben schwer.
Aber nicht nur auf den Unterrichtsstoff nehmen die Nationalsozialisten Einfluss. Die Diskriminierung der nicht-arischen Schülerinnen nimmt von Tag zu Tag zu. Sie müssen sich in die hinteren Bänke der Klasse setzen, anderen Schülerinnen wird vom Umgang mit ihnen abgeraten und bei Schulaufführungen dürfen sie nicht mit auf die Bühne.
Nicht alle Lehrer sind stramme Nationalsozialisten. Einige versuchen die Bestimmungen zu umgehen. Auch ein paar ihrer Klassenkameradinnen halten zu Marion. Aber sie fühlt sich trotzdem immer mehr ausgeschlossen und auf sich selber gestellt.
Von ihrer Familie bekommt sie keine Hilfe, sondern nur den Rat nicht aufzufallen und sich nützlich zu machen. Keiner erklärt ihr wirklich, was gerade in Deutschland passiert. Ihre beiden Bezugspersonen, der Vater und die ältere Schwester Ida, sind mit ihren eigenen Problemen durch die Arbeitsverbote beschäftigt und selber hilflos.

Das Buch basiert auf dem schriftlichen Nachlass von Herta F und Material der Familie sowie auf Beobachtungen von Zeitzeugen. Daraus hat Lea Krambeck aber eine ganz neue, ebenso spannende wie berührende Geschichte geschrieben.

Die Darstellung der handelnden Personen ist ihr sehr gut gelungen. Man kann sich nicht nur sehr gut in Marions Situation hineinfühlen, sondern hat auch die anderen Hauptfiguren plastisch vor Augen. Sehr deutlich wird gezeigt, wie die Ausgrenzung der Nicht-Arier stückweise und sehr effizient betrieben wurde. Am Beispiel der Biologielehrerin sieht man, dass selbst Leute, die nicht von der NS-Propaganda überzeugt waren, sich angepasst haben.

Sehr gut gefallen hat mir auch, dass Krambeck nicht in reine Schwarz-Weiß-Malerei abgedriftet ist. Es gibt nicht nur Täter und Opfer, sondern durchaus auch Personen, die nicht gedankenlos mit der Masse mitlaufen und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten widersetzen.

Für viele Leser wird es allerdings schwierig sein, dass Marion so viel über Physik und Mathematik nachdenkt und diskutiert. Diese beiden Fächer sind bekanntlich allgemein nicht besonders beliebt und das Niveau dieser Diskussionen dürfte doch viele Leser überfordern. Man kann diese Stellen aber gut überspringen, ohne den Faden der Handlung zu verlieren.

Bei der Planung dieses Buches hat die Autorin nicht wissen können, wie aktuell die Thematik wieder werden würde. Auch die NSDAP war anfangs ein recht kleiner Verein. Erst durch die politischen und sozialen Umstände und ihre anfängliche Verharmlosung konnte sie so mächtig werden. Ähnlichkeiten zur heutigen Situation sind leider nicht zu übersehen.

Jedem, der sich für die Vorkriegszeit und die Mechanismen der schrittweisen Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe interessiert, kann ich dieses Buch absolut empfehlen.